Eine verschollene Schrift der Leipziger Vampirdebatte 1725 – 1734
Als Reaktion auf die bis heute bekanntesten und relativ gut dokumentierten Fälle von Vampirismus in Kisolova 1725 und Medwegia 1731/32 in Serbien entstand, wie bekannt sein dürfte, vor allem in Deutschland die Diskussion unter den Gelehrten und Akademikern über die Existenz oder Erklärung des ungarisch – serbischen Vampirphänomens. In Folge dessen erschienen vor allem im Jahre 1732, nach dem Bekanntwerden des Medwegia-Falls, eine große Anzahl beachtenswerter Schriften zu diesem Thema, wie z. B. Demelius’ Philosophischer Versuch..., W. S. G. E.’s Curieuse und sehr wunderbare Relation..., oder auch Putoneus’ Gründtlicher Bericht..., um nur einige zu nennen. Alle diese und noch viele andere Schriften aus dem gleichen Jahre oder der Folgezeit werden bei modernen Büchern über Vampirismus sowie auf Internetseiten als Quellen genannt. Darunter befindet sich auch ein Werk, das immer wieder als eine solche Quelle mit angeführt wird. Es handelt sich hierbei um ein Buch des damaligen Vizepräsidenten der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Otto von Graben zum Stein.
Über die Person Ottos von Graben zum Stein selbst gibt es viele widersprüchliche Angaben, die seine Person deshalb in einem Halbdunkel der Geschichte zurücklassen. Weder Geburts- noch Sterbejahr sind genau datiert. Er stammte ursprünglich aus Tirol und trat zu einem unbekannten Zeitpunkt einem geistlichen Orden, dem Ordo Servorum Mariae bei. Als ein solcher Servitenmönch diente er als Feldprediger in Sizilien, musste jedoch von dort im Jahre 1728 fliehen, da er eine kirchenkritische Schrift veröffentlicht hatte bzw. in gehaltenen Predigten die Rechte des römisch-deutschen Kaisers gegenüber dem päpstlichen Stuhl in Rom verteidigte. Dies könnte aber auch nur ein vorgeschobener Grund gewesen sein, denn nach seiner Flucht begab er sich nach Preußen, wo er offiziell die lutherische Konfession annahm. Wie es ihm gelang, in die unmittelbare Umgebung des preußischen Königs zu gelangen, bleibt im Dunklen. Doch hält sich mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit das Gerücht, dass er dort als Spion für Österreich tätig war. König Friedrich Wilhelm von Preußen bevorzugte ihn als Gesellschafter und auch als eine Art Hofnarr, was von Graben zum Stein oft nachteilig ausgelegt wird und auch an seiner Glaubwürdigkeit selbst rütteln soll. Dem muss jedoch ausdrücklich widersprochen werden, wenn man sich die Zeit nimmt, einen Blick in seine erhaltenen Werke, und dieser sind nicht wenige, zu wagen. Zu den bereits oben genannten wären hier zu erwähnen:
- Schematismus anatomiae hodiernae Romanaeecclesiae...
- Merckwürdige und recht seltsame Begebenheiten des auf wundersamen Wegen gereisten Pilgrims...
- Nachricht von der königlichen Residenz – Stadt Potsdam...
- Das jetzt blühende Potsdam mit poetischer Feder entworfen...
- Italiänisch – Teutsches und Teutsch – Italiänisches Hand – Lexicon...
- Allgemeine Schutz – Schrifft des ehrsamen Weiber – Handwerckes...
- Das betrübte Dressden...
und noch einige mehr.
Ferner betätigte er sich als Übersetzer, Zeitungsherausgeber (Potsdammischer Mercurius) und Lehrer für die italienische Sprache. Nicht alle Werke von Graben zum Stein erschienen auch unter seinem tatsächlichen Namen. Er benutzte zuweilen die Pseudonyme Bellamintes, Critille, Andrenius und Pneumatophilus.
Die Schrift, mit der Graben zum Stein seinen Anteil zur Leipziger Vampirdebatte beitragen wollte, trägt den Titel Otto, Grafens zum Stein unverlohrnes Licht und Recht derer Todten unter den Lebendigen, oder gründlicher Beweis der Erscheinung der Todten unter den Lebendigen, und was jene vor ein Recht in der obern Welt über diese noch haben können, untersucht in Ereignung der vorfallenden Vampyren, oder so genannten Blut = Saugern im Königreich Servien und andern Orten in diesen und vorigen Zeiten. Berlin und Leipzig (o. J., sollte allerdings im Jahre 1732 erscheinen).
Während meines Studiums der vampirischen Schriften versorgte ich mich nach und nach mit sämtlichen verfügbaren Quelltexten. Dennoch ist es mir trotz größter Bemühungen bis heute nicht gelungen, ein Exemplar dieser Schrift ausfindig zu machen. Kein Archiv, keine Universitätsbibliothek und auch nicht die Berlinisch–Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, als Nachfolgerin der Preußischen Societät der Wissenschaften, deren Vizepräsident Otto von Graben zum Stein - auch bekannt als Graf zum Stein, geb. um 1690 in Innsbruck, gest. um 1756 in Potsdam - in der Zeit vom 19. 01. 1732 bis zum 30. 06. 1740 war, waren in der Lage, mir eine Auskunft über den Verbleib seiner Schrift zu geben.
Es liegt daher die Vermutung nahe, dass Otto von Graben zum Stein aufgrund eines gegen ihn im Jahre 1731 ausgesprochenen Publikationsverbotes des königlich-preußischen Hofes nicht die Möglichkeit hatte, dieses Manuskript zu veröffentlichen. Als Begründung für dieses Verbot wurde ihm angeblicher „Aberglauben und Schwärmerey“ in seinen bisher veröffentlichten Schriften vorgeworfen und ein Zuwiderhandeln hätte eine Geldbuße von 100 Talern nach sich gezogen, was Graben zum Stein, trotz seines fürstlichen Gehalts von 200 Talern, dann auch davon abhielt, weitere Schriften zu veröffentlichen. Dabei hatte ihn König Friedrich Wilhelm I. ausdrücklich in seinem zum 19. Januar 1732 ausgestellten Ernennungsschreiben zum „Vicepräsidenten der Preussischen Academie der Wissenschaften“ dazu aufgefordert, „darüber zu wachen, dass die Kobolde, Alpen, Irrwische, Wassernixen, verwünschten Leute und Satansgesellen ausgerottet würden.“ Als Nachsatz wurde noch hinzugefügt, dass Graben zum Stein für die Ergreifung und Auslieferung eines jeden dieser Fabelwesen eine Belohnung von 6 Talern ausbezahlt werden solle. Der König und sein „Tabacscollegium“ – das vielmehr die regelmäßige Zusammenkunft zwischen Saufkumpanen darstellte, überzogen die Akademie der Wissenschaften eher mit Spott. Nur so erklärt es sich, warum Friedrich Wilhelm die Präsidentenposten ausgerechnet mit zweien seiner Spaßmacher besetzte. Vielleicht waren Graben zum Steins Schriften zu gut geraten, zu beliebt geworden, und verfehlten somit des Königs offenbares Ziel den Aberglauben auszurotten, um Einiges. Denn der Stein des Anstoßes und Auslöser für das gerichtliche Publikationsverbot waren letztlich seine Sagen von den monathlichen Unterredungen von dem Reiche der Geister, die bis 1731 in zwei Bänden erschienen, und in welchen er Themen wie Erscheinungen der Verstorbenen, Poltergeister und verwunschene Häuser und Plätze anspricht. Nach Aufhebung des Publikationsverbotes zehn Jahre später beschloss er diese Buchreihe unter dem Titel Unterredungen von dem Reiche der Geister unverdrossen mit einem dritten Band. Diese Unterredungen wurden 100 Jahre später von den großen Volkskundlern und Geschichtensammlern ob ihres unglaublich großen Reichtums an solchen Geschichten eifrig konsultiert. Doch trotz der Wiederaufnahme seiner schriftstellerischen Tätigkeit ist nichts davon bekannt, dass die Schrift Unverlohrnes Licht und Recht... dann doch noch gedruckt worden wäre oder Einzug in eines seiner nach 1741 veröffentlichten Werke gefunden hätte. 1734, zwei Jahre nach dem geplanten Erscheinungstermin, schreibt der als Vampirologe berühmt gewordene Nebraische Diakon Michael Ranft in seinem Tractat von dem Kauen und Schmatzen derer Todten in Gräbern von diesem Buch: „Hiervon habe ich nur den Titel gesehen. Denn das Werk selbst ist noch nicht in der obern Welt zum Vorschein gekommen...“, 3. Teil, S. 265/266.
Wie mir der dänische Vampirforscher Niels Petersen in einer Email schrieb, existiert sogar eine Erwähnung zu diesem Fall in der dänischen Zeitung Nye Tidender om lærde og curieuse Sager vom 29. Mai 1732, in der es nach einer kurzen Vorstellung von Graben zum Steins Vampirschrift zynisch heißt: „Das Beste an dem Buch wird wahrscheinlich sein, dass es niemals veröffentlicht werden wird.“ Ähnliche Quellen wird man vermutlich auch in damaligen deutschen Zeitungen finden.
Nichtsdestotrotz bleibt immer noch die kleine Hoffnung, ob nicht doch einige wenige Exemplare verstohlen ihren Weg in die Öffentlichkeit gefunden haben, denn anstelle von Leipzig und Berlin als eigentlichen Druckort wird verschiedentlich auch Wittenberg genannt, welche Stadt sich außerhalb des preußischen Einflussbereiches befand. Auch schreibt der kurfürstlich-sächsische Leibarzt Dr. Johann Daniel Geyer in seiner in Dresden 1735 erschienen kleinen Schrift Müßiger Reise Stunden Gedancken von denen Todten Menschen Saugern: „Es hat weder Herr Graf Otto zum Stein in seinem Gutachten von dem Licht und Recht derer Todten, noch die über dessen Gedancken bekandte Commentatores Ursach, diese Menschen Sauger vor was neues auszugeben...,“ was eigentlich den Schluss nahe legt, dass Herr Dr. Geyer zumindest das ungedruckte Manuskript gelesen haben muss. Ebenso soll der Verfasser der Auserlesenen Theologischen Bibliothek Graben zum Steins Werk besprochen haben, wie Michael Ranft in seinem Tractat 3. Teil, S. 260/61 schreibt.
Doch wo kann sich dieses Manuskript oder die etwaigen wenigen gedruckten Exemplare befinden? Nach gründlicher Recherche lässt sich nur so viel sagen, dass sowohl Manuskript als auch eventuell vorhanden gewesene Einzelexemplare des gedruckten Buches als verschollen gelten müssen. Umso erstaunlicher ist es, dass etliche Autoren wie auch Betreiber von Internetseiten diese Schrift als Quelle nennen, die sie doch selbst nie zu Gesicht bekommen haben dürften.
Doch soll es an dieser Stelle genügen – die Suche nach dem verschollenen Manuskript wird unvermindert fortgesetzt...
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